
403 – Heimweh nach den Eltern
»Jetzt kannst du endlich unseren hochverehrten Chef kennenlernen. Dort hinten kommt er.« Stella Wegener, der die Aufsicht über die Drogerieabteilung des Kaufhauses oblag, deutete unauffällig in Richtung Tür, die sich gerade hinter einem hochgewachsenen, gutaussehenden Mann geschlossen hatte.
Kerstin Hennings, ein bildhübsches Mädchen von neunzehn Jahren, senkte rasch den Kopf und bemühte sich, ihre Arbeit besonders ordentlich zu machen. Seit etwas über zwei Wochen arbeitete sie schon in diesem Kaufhaus, räumte Regale ein und wischte mehrmals am Tag den Fußboden auf. Die Arbeit machte ihr keine Freude, aber sie war froh, daß sie überhaupt etwas arbeiten konnte.
Zwar hatte Kerstin mit mittlerem Erfolg ihre Banklehre absolviert, aber nach der Abschlußprüfung ist sie leider nicht übernommen worden. So war ihr nach längerem Suchen nichts anderes übriggeblieben, als das Angebot von Merkels Kaufhaus anzunehmen.
Seit über einem Vierteljahr lebte sie schon mit ihrer schwerkranken Mutter in einer kleinen Wohnung am Rande von Maibach, damals war ihr Vater an einem unheilbaren Magenleiden gestorben. Noch hatte Kerstin seinen Tod nicht verwunden, dazu kam noch die Sorge um die Mutter, die mit jedem Tag verhärmter aussah.
Kerstin duckte sich noch tiefer in das unterste Regal, als sie fühlte, daß Richard Merkel immer näher kam. Ihr dunkles, schulterlanges Haar fiel nach vorne, und sie hätte es am liebsten zurückgestreift, um ihn unbemerkt ansehen zu können.
Nur einen Augenblick paßte sie nicht richtig auf und schon geschah es. Eine Glasflasche mit Haarwasser rutschte ihr aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang.
»Machen Sie das öfter so?« fragte Richard Merkel und runzelte mißbilligend seine dunklen, dichten Augenbrauen. Um seine Lippen glitt ein etwas überhebliches Lächeln.
»Entschuldigen Sie bitte, ich war unvorsichtig«, gab Kerstin kleinlaut zu und strich nun doch mit der linken Hand die Strähne zurück. Ihr Blick wanderte von den schwarz glänzenden Schuhspitzen hinauf, an der exakten Bügelfalte seiner dunklen Hose entlang, bis zu dem markant geschnittenen Gesicht des Mannes.