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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können.
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10 – Das vergessene Lied

Nr.: 10
Veröffentlichung: 8. Juni 2021
Erscheinungsweise: alle 2 Wochen
Seitanzahl: 100
Autor: Leni Behrendt
Artikel-Nr.: 9783987570469
Dem Kalender nach war es Frühlingsanfang, in der Natur jedoch noch tiefer Winter. Es schneite lustig und unaufhörlich in großen dichten Flocken. Blitzschnell setzten sich Millionen weißer Sternchen auf die Schutzscheibe des rasch dahinrollenden Autos, so daß die beiden Scheibenwischer es kaum schaffen konnten, die weißen Störenfriede hinwegzufegen. Dazu tobte ein Sturm, daß selbst der schwere Wagen nur mit Mühe die gerade Fahrtrichtung halten konnte. Dieses unvorschriftsmäßige Wetter war zwar nichts Ungewöhnliches in Ostpreußen: Man war daran gewöhnt, daß der Frühling immer auf sich warten ließ, manchmal sogar bis in den Mai hinein. Allein den Besitzer des eleganten Wagens schien das rauhe Wetter irgendwie zu beunruhigen; denn tiefe Besorgnis lag in seinem Blick, der immer wieder hinausschweifte. Fürchtete er sich etwa vor dem Schneetreiben? Er fürchtete sich tatsächlich, so sonderbar das auch anmuten mochte. Allerdings nicht für sich; er war an die rauhe Witterung gewöhnt. War in Norddeutschland geboren, als zweijähriger Knabe mit seinen Eltern nach Ostpreußen gekommen und dreiundzwanzig Jahre unausgesetzt dort geblieben. Wenn er sich jetzt vor dem rauhen Winter fürchtete, so geschah es um des neunjährigen Mädchens willen, das, fest in seinen Arm geschmiegt, mit nachtdunklen Augen in das weiße Flockengewirr hinaussah. Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem schwarzen Lockenköpfchen hin. Jetzt wandte die Erzieherin sich den beiden hinter ihr Sitzenden zu, und ihre grauen Augen, das einzig Schöne an diesem unscheinbaren Menschenkind, ruhten mitleidig auf dem Gesicht des Mannes. »Sie machen sich wirklich zuviel unnötige Sorgen, Herr Uhde«, sagte sie in der ihr eigenen Ruhe, die immer so angenehm berührte. »Graziella ist kerngesund, wie die Untersuchung des Berliner Professors erwiesen hat; sie wird daher den Klimawechsel ohne Schaden überstehen. Zumal sie ja auf der langen Seereise und in Berlin schon andere Luft geatmet hat als in Brasilien.« »Ich wünschte, Sie behielten recht«, seufzte der Mann. »Sie wissen nicht, was mir das Kind bedeutet.«

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