
9 – Reise an den Abgrund
»Nach Venedig?« fragte Victoria Dryer irritiert. »Wir fliegen nach Venedig? Aber wie kommen Sie denn jetzt ausgerechnet auf Venedig, Mylady? Wollten Sie nicht Ihre Verwandten in Irland besuchen? Man erwartet Sie doch sicher in Sligo.«
Die junge bildhübsche Privatsekretärin von Lady Beatrice Emerson schüttelte den Kopf. Sie war daran gewöhnt, daß die alte Dame sie mit seltsamen Einfällen konfrontierte – ein Essen in einem Fast-food-Restaurant, der Besuch eines Flohmarktes oder die Besichtigung einer Schokoladenfabrik waren nur einige der Schrullen, denen Lady Beatrice mit Vergnügen nachging. Nun ja, sie verfügte über Unabhängigkeit und ein beachtliches Vermögen, und sie war nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes allein, denn sie hatte keine Kinder.
Ihre Verwandten in Sligo, Brüder, Schwägerinnen, Neffen und Nichten, gaben sich redliche Mühe, sie dazu zu bewegen, sich wie ein anständiges Mitglied des Hochadels zu benehmen, aber die alte Dame ignorierte diese guten Ratschläge.
»Es ist mein Leben, und ich habe nicht vor, in meinem Schloß zu versauern, mich mit nichtsnutzigen, arroganten, aufgeblasenen Lords und Ladies abzugeben, die sich selbst für wichtiger als den lieben Gott halten. Es gibt so viel auf der Welt zu entdecken, und einiges davon will ich noch mitnehmen, bevor ich sterbe.« So antwortete sie stets, wenn jemand ihr Vorhaltungen zu machen versuchte. Die einzige, die Lady Beatrice in ihrer Meinung unterstützte, war ausgerechnet ihre Schwägerin Patricia, verheiratet mit Lord Gregory, dem absolut humorlosen Bruder von Beatrice, der seine Schwester schon mehr als einmal für verrückt erklärt hatte. Aber auch darüber ging die Lady mit einem feinen Lächeln hinweg.
Und