
102 – Was hat mein Bruder dir angetan?
Dr. Leon Laurin seufzte schwer, als er den Operationssaal verließ. Alle Teammitglieder blickten ihm mitfühlend nach.
»Dieses verrückte Wetter ist schuld«, murmelte Dr. Rasmus. »Wem macht das nicht zu schaffen?«
Die frisch operierte Patientin spürte davon jetzt allerdings nichts. Sie wurde in den Wachraum gefahren. Ihr Gesicht wirkte durchscheinend zart wie Porzellan in seiner Regungslosigkeit.
»Armes Hascherl«, sagte Schwester Marie leise, als sie nach der Patientin schaute.
Bedauernswert war die junge Frau tatsächlich, arm im materiellen Sinne gewiss nicht. Moni Hillenberg füllte im Büro gerade ein Formular aus.
Jennifer Morland, fünfundzwanzig, Notfall, hatte Moni eingetippt, als die Schwerverletzte vor drei Stunden gebracht worden war. Sie war auf die Frauenstation gelegt worden, weil sie schwanger war. Im vierten Monat, schätzte Dr. Laurin nach einer ersten Untersuchung. Aber für das werdende Kind gab es keine Überlebenschance mehr, weil schwerste Blutungen eingesetzt hatten, und besonders dadurch war auch das Leben der Patientin in Gefahr geraten.
Jetzt konnte Moni noch einiges eintragen, denn inzwischen waren die näheren Umstände des Unfalls bekannt geworden – und auch, dass der Ehemann der Patientin, Volker Morland, noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen erlegen war.
Dr. Laurin hatte jetzt schon Angst davor, es der Patientin sagen zu müssen, denn schon die Tatsache, dass sie das Kind verloren hatte, war schmerzlich genug.
Aber vorerst wusste sie gar nichts. Und bei der Polizei war nur bekannt, dass der Fabrikant Volker Morland den Unfall selbst verschuldet hatte, denn er war mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf teilweise vereister Straße gefahren.
Auf der Chirurgischen Station war das zweite Unfallopfer untergebracht worden, das schuldlos